Der elfjährige Ele aus den Bergen Norditaliens gerät auf einem Ausflug mit seinem älteren Bruder Marco in ein ungewöhnlich schweres Unwetter. Im abgeschiedenen ‚essecatoio’, einem Trockenhäuschen für Kastanien, finden sie Unterschlupf. Hier begegnen sie einer geheimnisvollen Alten, die sie durch ihre Erzählkunst verwirrt und ängstigt, aber auch in Erstaunen versetzt.
Schlagartig verändert sich Eles Leben und seltsame Dinge passieren.

 

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Der rätselhafte Schatten
Emanuele hüpfte von einem Bein auf das andere und massierte sich die schmerzenden Finger. „ Selber Schuld Ele,“ lachte Piero, „hättest du die Maroni liegen gelassen, selber Schuld, selber Schuld!“
„Hör endlich auf mit deinem ‚selber Schuld’ du ... ich bin doch nicht blöd oder denkst du ich will wieder Ärger riskieren, wie am letzten Mal, he?!“
„Ach was Ele, du hast immer nur Angst!"
„ Ich habe keine Angst, ich habe keine Lust auf ...“ Piero gab nicht auf, er hänselte immer weiter und gab keine Ruhe. Doch plötzlich wurde er stiller und flüsterte nur noch: „Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen.“ Dabei rollte er auffallend seine dunklen Augen und starrte horchend in die Leere, drückte steif seinen Zeigefinger auf die spitzen Lippen und verharrte in äußerster Anspannung. „Ich will …“ , wollte Emanuele gerade erwidern, doch da bemerkte auch er, dass sich ein Schatten auf dem hängenden Bettlaken abbildete. Misstrauisch blickten beide auf das Wäschestück. Der Schatten rührte sich nicht vom Fleck. Wer war das, was soll das? Wurden wir etwa belauscht? Hmmm, na das wäre eine schöne Bescherung, dachte Ele. Auch Pieros Lippen nahmen wieder normale Formen an und dem sonst so abenteuerlustigen Piero war es nun doch etwas unheimlich! Schweigend beobachteten sie die schwarze Gestalt hinter dem Laken. Der Körper bewegte sich kaum, aber die Umrisse eines Menschen waren ohne Zweifel erkennbar. Sie standen immer noch wie angewurzelt auf der Stelle. Endlich drehte sich die mysteriöse Gestalt zur Seite und das Abbild eines langen Zopfes wurde sichtbar. „Ahhhhh, das könnte ... ich glaube ... ich weiß wer das ist, "flüsterte Piero und schnitt seine Lieblingsfratze, dem ein lautes Schnallzen der Zunge folgte.  Doch plötzlich fuhr ein heftiger Windstoß in die volle Breitseite des Lakens und die Schattengestalt verschwand im Geflatter des weißen Tuches. Der Stoff wickelte sich der Länge nach um den stöhnenden Körper und ein Strampeln und Kreischen verriet, dass es ein Mädchen sein musste, denn kein Junge würde jemals so ein Gezeter veranstalten, darin waren sie sich einig. Nein, niemals!
„Was haben wir denn daaa? Was zappelt denn hier so wild ... woll’n doch mal sehen ... und den großen Octopus befreien!“, jubilierte Piero. „ Komm Ele pack das Monster, schnapp es dir, schnell ... und dann ab mit dem Riesenkraken in die Wassertonne da drüben. Los Ele, avantiiiii!“
„Auu verflixt, meine Hand, auuui!"
„ Mann Ele, du jammerst mehr als dieses Krakentier hier in der Gefangenschaft!“
 „ Ach, du hast ja keine Ahnung, wie weh das tut! Bendige du doch den Wildfang und ich packe es lieber an den Schultern, lass uns Tauschen Piero, schnapp dir die Tantarkel!“, hechelte Ele. Sein Freund Piero war ganz in seinem Element und triumphierte schon wieder lauthals: „Das ist ein Prachtfund ... ein Exemplar der Sonderklasse ... fantastico ... na klar, es will schwimmen dieses kleine Monstertier,“ krakelte er, „ Das wird ein Fest, DAS Wassertonnenfest, DAS Rie-sen-kra-ken-kracherfest!  Attenzione ! Aufstellung zum Wechseln der feindlichen Stellung! – avanti,  uno … due...  tre …“
Doch gerade als der Wechsel stattfinden sollte, stieß die Tür des caselle, einem winzig kleinen Steinhäuschens auf und kreischend stürzte Clelia auf sie zu. „Wollt ihr wohl, ihr Lausbuben, ihr lumpiges Lumpen ... sindel ihr …  Ich mach euch Beine, na wartet!“ Ele und Piero ließen vor Schreck ihren Fang fallen und stönend plumpste dieser auf Clelias Radicchiobeet!
„Ich kenne euch, alle beide, wartet nur ... ihr fagabuti... ihr ... entkommt mir nicht! So eine Schweinebande. Ich kriege euch, iiiihr!“
Emanuele und Piero rannten was die Beine hergaben und erst als sie sich sicher waren, dass Clelia sie nicht mehr sehen konnte, ließen sie sich unter einen alten Olivenbaum fallen. Die Luft war knapp und sie atmeten beide schwer und brauchten eine ganze Weile, bis sie sich von dem Schreck erholt hatten. „ Puh, Glück gehabt Piero," keuchte Ele, "hätte dumm ausgehen können!“ „Für wem Ele, für den Kraken oder was meinst du? Der oder besser gesagt ‚sie’ hat doch Glück gehabt!“
„Wir aber auch,“ keuchte Ele Ele weiter, „ wir hätten fast mit der Bohnenstange Bekanntschaft gemacht, glaub mir, Clelia hätte die uns kräftig spüren lassen. Hast du gesehen, wie sie damit herumfuchtelte, die hätte gesessen!“
„Aber nur bei dir," antwortete Piero,  " ich hätte sie ausgetrickst, meine Stunden vom Boxtraining hätten mich gerettet, die hätte mich nicht erwischt!“, er sprang auf, trippelte wie aufgezogen auf der Stelle, kickte kampfeslustig kurze Haken in die Luft und ließ sich der Länge lang unter den Olivenbaum fallen. „ Wieso bist du dir immer so sicher Piero, ich wette ...“ „Ach komm Ele, hör auf und sage mir lieber, wer das Krakenmonster war?“, er verschränkte seine Arme unterm Kopf, kniff zischend die Augen zusammen und wartete auf eine Antwort. 
„Hmmm ... weiß nicht, aber es könnte Fulvia gewesen sein, die komische Nichte vom bärtigen Ziegenbauern,“ meinte Ele mit zweifelnder Gebärde. „ Obwohl sie immer nur in den Ferien hier hoch kommt,“ fuhr er fort, „ und hat noch nie mit Jemandem gesprochen, ich jedenfalls, habe sie noch nie reden gehört, die ist wirklich seltsam ... richtig zickig!“
„Na ja,“ erwiderte Piero, „ich denke, als eine Verwandte vom Ziegenbart, da fällt einem auch nichts groß zum Reden ein, der ist doch selbst so ein putziger Sonderling. Er spricht auch mit Niemandem, außer mit seinen Ziegen. Mä-äck ... Mööö ...“  Rollte sich blitzschnell einmal um seine eigene Achse und fügte verschmitzt hinzu: „ Er kann vielleicht nur Ziegisch? “, und lachte schallend auf!
„Was, wenn sie uns schon länger belauschte und unser Gespräch mitbekommen hat?“, fragte Ele nachdenklich. „ Nooo, dann hätten wir sie doch schon längst bemerken müssen,“ antwortete Piero, „und wo bitteschön sollte sie sich versteckt haben, im caselle etwa? Da war Clelia und das Wohnhaus ist viel zu weit weg um ein Gespräch zu belauschen und vor allem, es zu verstehen und weit und breit war außer dem Bettlaken gar keine andere Möglichkeit.“
„Hmmm, wahrscheinlich hast du Recht Piero, sie hat nichts mitbekommen,“ was Ele beruhigte. Er blickte auf seine Armbanduhr und erschrak. „ Oh, ist das schon spät! Weißt du was Piero, ich muss jetzt  schnellstens nach Hause. Mein Bruder kommt heute aus dem Piemont und ich möchte unbedingt da sein, wenn er ankommt. Wir haben uns viel zu erzählen. Ich freue mich schon die ganze Woche auf ihn. Also, lass uns verschwinden!“
„Gut Ele, wann treffen wir uns wieder?“, wollte sein Freund wissen „Marco bleibt nur für ein Paar Tage hier und ich melde mich, sobald er wieder abgereist ist. Mit unseren Klopfzeichen ... dreimal durch die Röhre ... du weißt schon, wie immer ... töfftöff jiupp!“ Ohne sich nochmals umzudrehen, eilte er mit großen Sprüngen zur Lichtung und verschwand schließlich hinter den alten Korkeichen.
Piero schlenderte langsam durch den Olivenhain und sah plötzlich unterhalb des Hanges den Ziegenhirt mit seiner Herde. Der saß zusammengehockt, mit seinem spitzen Filzhut auf einen Baumstumpf, nahe seiner Brigascaziegen, aber von seinem Feriengast, war weit und breit nichts zu sehen. Sollte es doch nicht diese Fulvia gewesen sein?
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