Ich bin Prinz, eine kleine goldfarbene Ratte, und lebe freiwillig bei Rapunzel und ihrer verrückten Familie. Häufig muss ich mich eisern an Rapunzels Pulli festklammern, weil ich sonst bei ihrem Herumtoben hinunterfallen würde. Niemand nimmt hier Rücksicht auf eine kleine Ratte. Jeder denkt nur an sich! Ohne mich hätte Rapunzel ihre Geschwister und Künstlereltern bisher nicht so unbeschadet überstanden. Ich sorge dafür, dass sie in der Schule gut mitkommt, notfalls sage ich ihr leise vor, und zu einer netten, hilfsbereiten Rattenprinzessin heranwächst. Schließlich will ich sie eines Tages heiraten. Mit Illustrationen von Krisi Sz.-Pöhls Für Kinder ab 8 Jahre

 

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Der Umzug

Rapunzel rennt hin und her. Dabei wirft sie Socken, Nachthemden und Pullis in einen Koffer. Als der Koffer voll ist, schmeißt sie den Rest einfach in einen großen Pappkarton. Ihr Spielzeug und ihre Bücher kippt sie obendrauf. Ich klammere mich eisern fest, bei ihrem Getobe habe ich Angst herunterzufallen. Wer nimmt in diesem verrückten Haus schon Rücksicht auf eine kleine Ratte? Jeder denkt nur an sich!
„Die Musikinstrumente packen wir mit den Koffern zuletzt in den Bus. Der Rest muss in den Laster“, sagt Nachtigall. Nachtigall ist die Mutter  Rapunzels und der anderen Chaoten.
„In den Koffer passt nichts rein“, sagt Rapunzel.
„Dann packe es in einen Karton!“
„Habe ich schon gemacht. Das Futter von Prinz muss ganz weit nach oben.“
„Na, er freut sich bestimmt, wenn du ihn mit Käse und Schinken fütterst, statt mit Nagerfutter.“
Manchmal kann Nachtigall tatsächlich Gedanken lesen. Nicht, dass sie besser wäre, im Gegenteil. Sie und Picasso sind viel schlimmer als die anderen. Dabei sind sie die Eltern dieser Schreihälse. Ich bin der einzige Vernünftige hier, aber wer hört hier auf eine kleine goldfarbene Ratte?
Warum habe ich mir das bloß angetan? Ich hätte damals vielleicht lieber im Kanal ertrinken sollen, als bei Rapunzel zu leben. Ihre Familie ist eine verrückte Künstlerfamilie. Der Vater, Picasso genannt, ist Maler. Angeblich ist er sehr talentiert. Nur hat das noch nie jemand so richtig erkannt. Also malt er Bilder, die er nur selten verkaufen kann, und damit sie nicht alle verhungern, gibt er Unterricht an Kunstschulen und Volkshochschulen. Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, ist die Mutter, genannt Nachtigall, Sängerin. Ab und zu hat sie ein gut bezahltes Engagement. Dann muss die ganze Familie deswegen umziehen. Zusätzlich gibt sie Musikunterricht. Und damit ich und die Nachbarn richtig belästigt werden, spielen sämtliche sechs Kinder mindestens zwei Instrumente. Ohne Ohrschützer hält es hier keiner aus.
Kein Wunder, wenn sie alle etwas merkwürdig sind. Zu den Kindern gehört zunächst einmal Winnetou, der Älteste und auch Vernünftigste. Kein Wunder, er musste als Baby auch noch nicht ganz so unter dem Lärm seiner Familie leiden. Wie Winnetou aus den Büchern versucht er immer Frieden zu schließen. Er ist achtzehn und steht kurz vor seinem Abitur.
Der nächste ist Zorro, ein Gerechtigkeitsfanatiker, er ist siebzehn. Es folgen die Zwillinge Rosenrot und Schneeweißchen. Sie haben früher immer mit dem Bernhardiner ihrer Großeltern gespielt und sogar in seinem Korb geschlafen. Picasso meinte, sie wären wie die beiden Schwestern aus dem Märchen, die mit dem Bären spielen. Beide sind sechzehn. Am liebsten würden sie sofort ausziehen. Aber Geld hat hier keiner, also müssen sie bei ihrer Familie bleiben, bis sie selbst Geld verdienen. Cäsar ist dreizehn. Er hat schon früh erkannt, dass irgendjemand das Ganze organisieren muss, daher kommandiert er gern herum.
Rapunzel ist das Nesthäkchen. Den Namen hat sie, weil ich an ihrem Zopf, ähm Schal, aus einem Schacht geklettert bin. Sie hat die Familie, dank meiner Hilfe, bisher ziemlich unbeschadet überstanden. Sie ist neun Jahre alt und geht zur Grundschule. Damit sie später einmal das Gymnasium besuchen kann, helfe ich ihr in der Schule und bei den Hausaufgaben.
Ich selbst bin Prinz. Ich stamme aus der königlichen Familie der Goldratten. Wir sind mit den Wanderratten verwandt. Schon als ich klein war, erzählte meine Mutter immer die Vorhersage des Wahrsagers: „Eines Tages wird ein Prinz aus der königlichen Familie von einer Menschenprinzessin gerettet werden. Zum Dank bleibt er bei ihr und dient ihr treu. Sobald ihre Liebe groß genug ist, verwandelt er sich in einen Menschen, heiratet seine Prinzessin und die beiden bekommen viele Kinder. Bis zu ihrem Lebensende leben sie glücklich in einem Schloss.“
Wenn wir allein waren, hat meine Mutter mir zugeflüstert: „Der auserwählte Prinz soll auf seiner Pobacke ein Muttermal haben. Du hast dieses Mal. Eines Tages wirst du ein mächtiger Menschenkönig werden.“
Stundenlang verbrachte ich als kleine Ratte damit, meine Pobacke zu betrachten. Ja, ich habe unter dem goldenen Fell ein dunkles Mal. Später, als Jugendlicher, lachte ich über diese alte Prophezeiung. Doch dann spülte mich ein Unwetter in diesen Schacht, und kurz bevor meine Kraft mich verließ und ich ertrank, erschien Rapunzel und rettete mich. Jetzt warte ich darauf, dass Rapunzel erwachsen wird und sich der weitere Teil der Prophezeiung erfüllt. Woher allerdings das Schloss kommen soll, ist mir noch unklar.
Nachtigall reicht Rapunzel eine Jacke. „Ist er in seinem Käfig? Nicht, dass er verloren geht“, sagt sie noch, dann rennt sie ins Wohnzimmer und dirigiert den Transport des Klaviers.
Tatsächlich geht Rapunzel in die Küche und öffnet den Käfig.
„Nein, du willst mich doch nicht wirklich einsperren? Das halte ich nicht aus“, wettere ich gleich los.
„Im Käfig bist du aber am besten aufgehoben, da bist du in Sicherheit und kannst keine Dummheiten anstellen“, antwortet Rapunzel.
Wie kann meine Prinzessin so herzlos sein? „Bestimmt ersticke ich im Umzugswagen!“, schimpfe ich. Doch Rapunzel hört mir gar nicht zu.
„Du tust mir weh. Du krallst dich so fest, dass ich schon überall Kratzspuren habe!“
„Wenn du nicht immer hin- und herspringst, muss ich mich auch nicht so krampfhaft festhalten.“
Ich verstehe nicht, warum die Menschen so hektisch werden, nur weil  sie umziehen. Wir Wanderratten ziehen ständig umher, ohne dass es uns große Probleme macht. Aber natürlich rammeln wir unsere Bauten nicht mit solch unwichtigem Kram wie Musikinstrumenten, Möbeln, Schuhen und anderen Dingen voll. Wären wir so kompliziert wie Menschen, hätten wir es nie von China bis nach Deutschland geschafft. Dann säßen wir noch immer irgendwo in Sibirien fest.
Rapunzel greift auf ihre Schulter. Natürlich warte ich nicht, bis sie mich fängt, sondern schlüpfe schnell in den Ausschnitt und rutsche den Rücken runter. Da kommt sie schon mit der zweiten Hand, also laufe ich an ihrem Hosenbund nach vorne.
„Prinz, wir ziehen um. Es gibt viel zu tun.“
„Darum müsst ihr doch nicht völlig durchdrehen! Mit ein bisschen Nachdenken geht alles viel besser.“
Im Hintergrund keifen sich die Jungs an. „Wir müssen erst vorne, dann hinten anheben“, schreit Zorro.
„Und dann stürzen wir mit den Klavier die Treppe hinunter“, gibt Winnetou zurück. Das Klavier steht vor der Haustür und die fünf Großen streiten sich.
„Genau das meine ich! Warum nehmen sie nicht die Gurte und tragen das Teil die Treppe hinunter?“, sage ich.
Rapunzel seufzt, lässt mich, wo ich bin und geht zur Tür.
„Wollt ihr nicht erst einmal die Gurte anlegen, bevor ihr die Treppe hinunterfallt?“, schlägt sie vor.
Braves Mädchen! Manchmal ist sie so klug und hört auf mich. Tatsächlich legen Winnetou, Zorro, Cäsar und Schneeweißchen die Gurte um und schieben sie unter das Klavier. Dann heben sie es durch die Tür und die Treppe hinunter. Rosenrot dirigiert sie dabei. Der kleine Laster vor dem Eingang hat zum Glück eine Hebebühne, so dass sie es nicht auf den Wagen heben müssen.
Rapunzel läuft zur Küche und trägt den Käfig hinterher. Dann steckt sie mich in die Jackentasche, die ist schön weit und bequem. Nach all der Hektik rolle ich mich zusammen und schlafe erst einmal eine Runde.
Es riecht lecker nach Salami, Käse und Brot. Mein Hunger meldet sich. Bei dem Stress muss ich gut essen. Ich luge aus der Tasche. Rapunzel sitzt neben Rosenrot auf dem Fensterbrett und stopft sich eine Salami hinein.
„He, selbst essen macht dick“, sage ich.
„Und ich dachte, die Nervensäge ist im Laster“, sagt Picasso, Rapunzels Vater. Beleidigt drehe ich ihm den Rücken zu, zupfe aber gleich danach an Rapunzels Ärmel.
Sie reicht mir den armseligen Rest der Wurst. Immerhin folgt noch ein Stück Käse von Schneeweißchen. Und als auch noch Nachtigall mir etwas Brot spendiert, werde ich glücklich und satt.
„Käse und Wurst ist für Prinz ungesund“, sagt sie. Momentan hat sie einen Gesundheitsfimmel. Alle sollen möglichst Gemüse und Obst essen. Sie kauft nur noch Vollkornbrot und Vollkornnudeln. Mit dem Erfolg, dass die Kinder am Esstisch ganz wenig essen und sich anschließend beim Imbiss Pommes frites oder Döner kaufen. Manchmal holen sie auch Schokolade und Kekse aus dem Supermarkt. Trotzdem sind sie alle ganz schlank. Der einzige, der auf seine Figur achten muss, bin ich.
„Das kommt davon, dass du dich immer tragen lässt“, stichelt Picasso gern. Dabei muss ich bestimmt zwanzig Schritte machen, um bei einem Schritt von Rapunzel hinterherzukommen.
Nach dem Essen tragen die Kinder die Küchenstühle und den Esstisch hinunter. Nachtigall fegt und Picasso bringt den Müll weg. Anschließend schließen sie das Haus ab.
„Es kann losgehen!“, sagt Picasso.
Unser rot, gelb und grün angemalter VW-Bus steht vor dem kleinen Laster.
Rapunzel setzt sich hinter den Fahrersitz. Neben ihr sitzen die Zwillinge Rosenrot und Schneeweißchen. Winnetou fährt und Picasso thront auf dem Beifahrersitz. Die hinterste Bank ist umgeklappt und mit Gepäck vollgepackt. Auf den Koffern liegen Decken und Jacken, sodass man nicht nach hinten sehen kann.
Nachtigall fährt den Laster, mit Cäsar und Zorro als Beifahrer. Die müssen die Karte lesen, damit wir auch ankommen. Picasso kann es leider nicht. Beim letzten Versuch haben wir drei Stunden gebraucht, um wieder an unserem Ausgangspunkt anzukommen. Solche praktischen Dinge kann man halt nicht von einem Maler, erwarten.
Ich halte mit meinem vollen Magen erst einmal einen Mittagsschlaf. Die Fahrt wird noch lange genug dauern. Als ich wieder aufwache, fliegen Wolken und Bäume an uns vorbei. Der Bus klappert gewaltig. Winnetou fährt sicher wieder einmal schneller als er soll. Nein, das täuscht nur, denn der Laster vor uns ist genauso schnell. Der Bus ist einfach nur alt. Hoffentlich fällt er nicht unterwegs auseinander.
Ich schließe die Augen und versuche wieder einzuschlafen. Aber so unruhig, wie ich bin, kann ich es natürlich nicht mehr, dabei schlafen Ratten tagsüber und sind in der Nacht wach. Also krabble ich aus der Tasche heraus und auf die Rücklehne. Jetzt habe ich einen richtig guten Ausblick. Ich sehe Kühe und Pferde auf den Weiden stehen. Huh, da sitzt ein Bussard auf einem Pfosten. Wie gut, dass ich im Auto bin und nicht auf dem Feld.
Nach einer Weile wird es mir langweilig, ich krieche in das Gepäck und untersuche es. Vielleicht habe ich Glück und finde etwas Schmackhaftes. Um die Musikinstrumente mache ich lieber einen großen Bogen, da kennen die Kinder kein Pardon. Nicht einmal Rapunzel hat Verständnis, wenn ich in der Gitarre übernachte. Dabei ist das so eine schöne Höhle. Ich hatte sie einmal mit etwas Wolle und Heu ausgestopft, das war herrlich gemütlich. Zur Strafe musste ich eine Woche lang im Käfig schlafen. So eine Gemeinheit. Dabei hat sowieso niemand das Ding benutzt. Es war ein alter Staubfänger. Nur weil Nachtigall so ein Theater gemacht hat, von wegen altem Erbstück und kostbares Instrument. Auf dem schon Dingsda große Konzerte gegeben hat.
Die Koffer sind alle verschlossen. Ich könnte natürlich ein Loch hineinnagen, aber das würde auch Ärger geben. Also lasse ich es lieber. Nachtigall traue ich es zu, dass sie mich einfach auf einem Parkplatz aussetzt. „Ratten gibt es überall. Du wirst schon zurechtkommen“, meint sie dann sicher nur.
Der Bus klappert nicht mehr ganz so stark. Winnetou scheint langsamer zu fahren. Es geht in eine Kurve. Ich bekomme so einen Druck im Magen, dass ich mich nicht mehr halten kann, sondern  durch den Kofferraum rutsche. Leider rutsche ich nicht allein, sondern die Kisten und Koffer und Taschen rutschen ebenfalls. Und genau auf mich zu. Mir wird elend vor Angst. Hilfe! Ich werde zerquetscht! Mit einem beherzten Sprung rette ich mich auf den Gitarrenkasten und von dort weiter auf Rosenrots Kopf. Mit aller Kraft kralle ich mich fest, ohne auf ihr Kreischen zu achten. Was hat sie bloß? Sie ist doch sonst nicht so zimperlich. Das darf sie bei drei Brüdern und zwei Schwestern auch gar nicht sein.
„Rapunzel, nimmt dein Vieh weg. Es reißt mir alle Haare aus“, schreit sie.
Rapunzel beugt sich hinüber und greift nach mir. Das passt mir nicht und ich fletsche meine Zähne.
„Prinz, hör auf, oder du gehst in den Käfig.“
Blödsinn, der ist doch im Laster.
„Für eine ganze Woche.“ Nun gut, ich bin vernünftig und friedlich, also lasse ich mich in die Hand nehmen und wieder in die Jackentasche packen.
Langsam beruhigt sich mein pochendes Herz und ich nage an dem Keks, den mir Rapunzel gibt.
© Annette Paul