Im Herbst 1323 lebt die vierzehnjährige Clara mit ihrer Familie in dem neuen Dorf Dringenberg. Clara hat eine gefährliche Gabe, sie ist hellsichtig und geriet deswegen bereits einmal in den Verdacht, eine Hexe zu sein.
Clara hat Träume, die sich mit dem strengen Rollenverständnis ihrer Zeit nicht vereinbaren lassen. Sie hat lesen und schreiben gelernt und träumt davon, ihr Heimatdorf zu verlassen. Sie möchte die Welt kennenlernen und eines Tages vielleicht sogar ihre große Liebe Gabriel wiederfinden. Heimlich plant sie, sich bei dem nächsten Besuch der Händler dem Tross anzuschließen.
Doch dann bricht eine schlimme Fieberwelle in dem Ort aus und Clara wird gebraucht. Aus Pflichtbewusstsein bleibt sie im Dorf. Aber gerade dadurch gerät sie in große Gefahr. Clara muss fliehen. Ihr Bruder Adrian hilft ihr, den Händlertross zu finden.
Währenddessen trennt sich in München auch Gabriel von seiner Familie und macht sich gegen den Wunsch seiner Mutter Odilia auf den Weg zurück nach Dringenberg. Er kann Clara einfach nicht vergessen. Auch vor Gabriel liegt ein gefährlicher Weg.
Die Zeit der Wanderschaft setzt Claras Lebensgeschichte fort, die mit dem Buch "Die Zeit des Neubeginns" seinen Anfang nahm. Die Geschichte ist spannend und temporeich erzählt. Sie ist besonders geeignet für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren und für Erwachsene.

 

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Es fiel Clara schwer, Cäcilia allein zu lassen. Die alte Heilerin befand sich in einem Dämmerzustand. Clara flößte ihr die Medizin ein und versprach ihr, am Abend wiederzukommen. Aber sie war sich gar nicht sicher, ob Cäcilia sie überhaupt verstand.
Clara wollte bei ihr übernachten, denn Cäcilia war wirklich ganz allein.
Auch der Medicus ist allein, dachte sie, während sie durch die Straßen streifte.
„Geh nicht zum Medicus“, hörte sie Cäcilias Stimme. „Geh nicht zum Medicus. Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.“
Das wird er sicher nicht, dachte Clara. Er ist krank und ist bestimmt froh, wenn sich jemand um ihn kümmert.
Aber er hatte Cäcilia den Mundschutz vom Gesicht gerissen. Nein, wenn Cäcilia nicht wollte, dass sie zu ihm ging, hatte sie sicher gute Gründe.
Aber die Alte hatte hohes Fieber. Wusste sie überhaupt, was sie redete?
Verdammtes schlechtes Gewissen. Was interessierte sie der Medicus? Er hatte Odilia gehasst und er hasste sie. Er hatte sich nicht nur an der Hexenjagd beteiligt, er hatte die Menschen sogar aufgewiegelt. 
Er war schlecht und gemein.
Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.
Aber sie wäre eine schlechte Heilerin, wenn er ihr gleichgültig wäre.
Ach verflucht, sie war überhaupt keine Heilerin! Sie wollte keine sein.
Sie richtete ihren Blick zum Himmel. „Verzeihung. Ich fluche, das steht mir nicht zu. Ich bin nur so entsetzlich durcheinander. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Was ist mein Weg? Gib mir doch bitte ein Zeichen!“
Und dann stand sie vor dem Haus des Medicus. Sie war selbst überrascht darüber. Ihr Herz klopfte. Sie war tatsächlich hierher gegangen! Als hätte sie jemand geführt.
Sie klopfte an die schmale Holztür.
Keine Antwort.
Sie klopfte erneut.
Stille.
„Meister Medicus!“, rief sie.
Irgendetwas war da im Inneren. Ein Geräusch. Ein Krächzen.
Sie schob an der Tür. Sie ließ sich öffnen.
„Meister Medicus, ich bin es, Clara Schmied. Ich komme, um nach euch zu sehen. Darf ich?“
„Wo ist Cäcilia?“, antwortete eine schwache, krächzende Stimme.
„Sie ist ebenfalls krank. Ich komme gerade von ihr.“
Sie wartete jetzt nicht mehr auf die Erlaubnis, sie legte ihren Mundschutz an und trat näher.
In seinem Bett fand sie den Arzt.
Der alte Mann wirkte noch dünner, als er sowieso schon war. Sein weißes Haar war strähnig und sein Bart etwas zu lang und struppig.
Der Geruch von Tod hing in der Luft.
Cäcilia hat recht, dachte sie. Hier kann man nicht mehr helfen. Clara erschauderte.
„Warum kommst du vermummt zu mir?“
Clara tastete instinktiv nach ihrem Mundschutz.
„Es ist ein Schutz gegen die Krankheit!“, antwortete sie ruhig.
„Es liegt nicht in deiner Macht, dich vor Krankheit zu schützen. Das ist allein Gottes Recht. Ob du krank wirst oder nicht, ist dein Schicksal. Nimm die Vermummung ab.“
Geh nicht zum Medicus.
Claras Herz schlug bis zum Hals. Wie gebieterisch seine Stimme klang, obwohl sie so schwach war. Sie musste allen Mut zusammennehmen, um zu antworten: „Das werde ich nicht.“
„Du bist eine gottlose Person.“
„Ich kam, um nach euch zu sehen, euch einen Tee zu brauen oder Medizin. Ich kam, um zu helfen. Das ist nicht gottlos.“
„Dein Gebräu will ich nicht. Ich traue dir nicht.“
Die Heftigkeit, mit der ihre Großmutter die Medizin von Odilia abgelehnt hatte, kam ihr in den Sinn. Obwohl sie zum Teil nicht anders war, als Cäcilias Kräuter. Allerdings benutzte Odilia manches als Hexenkraut. „Galgant hilft, sich aus Einengungen zu lösen.“ Und Alant half angeblich gegen Hexen und Dämonen.
Clara schüttelte sich. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Manchmal war Odilia sogar ihr unheimlich gewesen.
Jetzt schlug ihr die gleiche Ablehnung entgegen. Warum war sie nur hierher gegangen?
Geh nicht zum Medicus.
„Wenn du nicht unter dem Schutz des Bischofs gestanden hättest, dann…“ Der Medicus hielt inne. Er atmete schwer. Aber husten tat er nicht.
Es hustete überhaupt niemand. Diese Krankheit war keine Krankheit der Bronchien oder der Lunge wie bei ihrem Großvater.
„Ich würde dich wieder anklagen. Dich, eine Hexenschülerin.“
Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.
„Odilia ist keine Hexe.“
„Nun bist du selbst die Hexe.“
„Das bin ich nicht.“
„Was ist mit Cäcilia? Warum kommt sie nicht?“
„Ich sagte es schon. Sie ist krank. Sie ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich habe sie nach Hause gebracht und ihr Medizin gegeben.“
„W…was?“ Der Alte versuchte hektisch, sich im Bett aufzurichten. „Was hast du mit ihr gemacht? Du hast sie verzaubert, nicht wahr? Du…“
Er fiel entkräftet zurück in die Kissen.
Clara konnte nicht antworten. Sie starrte ihn ein paar Sekunden lang mit weit aufgerissenen Augen an. Dann drehte sie sich unvermittelt um und lief aus dem Haus. Im Laufen riss sie ihren Mundschutz ab.
Sollte er doch ohne Linderung durch einen fiebersenkenden Tee oder eine Schmerzmedizin in seinem Bett liegen bleiben, bis der Tod kam. Sollte er doch allein bleiben. Sie würde nicht noch ein¬mal dieses Haus betreten. Warum hatte sie nur nicht auf Cäcilia gehört! Er wollte ihre Hilfe ja gar nicht.
Sie rannte, bis sie völlig außer Atem war.
Erst da bemerkte sie, dass sie schon vor ihrem Zuhause stand. Sie lehnte sich gegen die Wand und verschnaufte.
Dorothea kam heraus und entdeckte Clara. Sie zog die Haustür hinter sich zu und zog ihre Tochter auf die Bank vor dem Haus, die Gabriel gezimmert hatte. Es war eigentlich zu kalt, um hier zu sitzen. Aber sie glaubte, einen Moment mit Clara allein sein zu müssen.
© Rotraud Falke-Held