Die junge Adlige Damaris von Seyrich ist glücklich. Sie steht kurz vor der Hochzeit mit Clemens von Bergen. An ihrem 25. Geburtstag gibt Clemens für seine schöne Verlobte ein großes Fest, bei dem er sie offiziell als seine Braut vorstellen will.
Doch Damaris fühlt sich nicht wohl in dem Haus, das schon bald ihr Heim werden soll.
Und irgendetwas scheint man vor ihr zu verheimlichen.
Aber was? Oder bildet sie sich alles nur ein?
Woher kommt dieses ungute Gefühl?
Wieso verhalten sich die Freunde ihrer zukünftigen Familie so sonderbar? Welches Geheimnis hütet die fünfzehnjährige Sarah?
Und was haben deren Eltern zu verbergen?
Immer tiefer gerät Damaris in ihre Suche nach dem Geheimnis und damit in große Gefahr.

 

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„Wo kommen sie denn her?’“, fragte Damaris zornig. „Sie haben mich erschreckt.“
„Das tut mir leid. Das wollte ich ganz sicher nicht.“
Der Ausdruck auf seinem Gesicht blieb unverändert.
Er sprang vom Pferd und stand jetzt direkt vor ihr. Damaris hatte ihn nicht ganz so groß in Erinnerung. Er war noch ein Stückchen größer als Clemens. Sie selbst reichte ihm gerade bis zur Schulter.
Gestern Abend war ihr das gar nicht aufgefallen. Aber ihre Tanzschuhe hatten natürlich auch höhere Absätze gehabt als ihre Reitstiefel.
„Und was tun sie hier in der Einsamkeit?“
„Ich mache einen Ausritt“, erwiderte sie trotzig.
„Sie sind geritten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Das nennen sie einen gemütlichen Ausritt?“
Vielleicht war der Teufel hinter mir her, dachte sie.
„Von gemütlich habe ich nichts gesagt“, maulte sie.
„Touché. Einen schönen Platz haben sie sich auf jeden Fall ausgesucht. Oder sind sie zufällig hier gelandet?“
Damaris war sich ganz sicher, dass er sowieso wusste, dass sie einfach hier gestrandet war. Also konnte sie es genauso gut zugeben.
„Also gut. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich hier bin oder wie ich hierher gekommen bin. Schon vergessen? Ich bin zum ersten Mal hier.“
„Mmm – da bin ich aber froh, dass ich sie getroffen habe.“
„Ich hätte mich schon zurecht gefunden.“
„Sicher. Nach tagelangem Umherirren im Wald – während der sie sich von Beeren und Insekten ernährt hätten.
„So schlimm wird es schon nicht sein.“
„So schlimm kann es aber sein. Der Wald ist sehr weitläufig. Wenn man sich nicht auskennt, hat man Schwierigkeiten, wieder hinaus zu finden. Oder wollen sie das auch dem Zufall überlassen?“
Damaris stemmte zornig ihre Hände in die Hüften. Sie war keineswegs bereit, sich geschlagen zu geben. Die Angriffslust vom Morgen hatte sie noch nicht wieder völlig verlassen. Und wenn sie in sein Gesicht sah, hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte.
„Na dann soll ich wohl froh sein über den Zufall, der sie auch ausgerechnet hierher geführt hat“, antwortete sie schnippisch.
Er grinste. „Na ja… Reiner Zufall war das eigentlich nicht.“
„Ach nein?“
„Nein. Aber das wissen sie doch sowieso. Ich war selbst auf einem Ausritt und sah sie Richtung Wald galoppieren – als sei der Teufel hinter ihnen her – und bin ihnen gefolgt. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, sie hätten sich verletzen können. Sie haben mich gar nicht bemerkt. Sie waren wohl sehr in Gedanken versunken?“
Der spöttische Ausdruck in seinem Gesicht war jetzt verschwunden.
„Ja, das stimmt“, erwiderte Damaris etwas versöhnlicher.
„Kommen sie, setzen wir uns ein wenig unter den Baum“, schlug er vor. Sie nickte. Es war zwar noch etwas kühl in dieser Jahreszeit im Gras, aber das war ihr gleichgültig. Sie hoffte, sie könnten das Gespräch vom Vorabend wieder aufnehmen.
„Und dieser Oliver – ein Fiasko.“ - „Er war nicht eingeladen.“
„Er war aber da! Er hat sie gesehen!“ - „Sie werden sich nicht wieder begegnen.“ - „Dafür werde ich beten.“
Ist nicht erhört worden, dein Gebet, dachte Damaris etwas boshaft.
Sie banden ihre Pferde an einen Ast und setzten sich unter eine breite, alte Buche, mit den Rücken an den mächtigen Stamm gelehnt.
Eigentlich war Oliver ihr sehr sympathisch. Sie mochte diese jungenhafte, lockere Art. Sie mochte diesen verschmitzten Ausdruck im Gesicht. Und trotz ihres Zornes machte ihr der Schlagabtausch mit ihm Spaß. Er war auf einem völlig anderen Niveau als Gespräche mit Clemens. Seine Art, Ernst und Humor zu vermischen, gefiel ihr.
„Natürlich gehört sich das nicht für eine junge Damen so kurz vor der Hochzeit, aber…“, grinste er.
Allerdings konnte er sie auch mit seinen ironischen Bemerkungen ganz schön ärgern. „Nun fangen sie bloß nicht wieder damit an“, schimpfte sie. „Dazu bin ich heute Morgen wirklich nicht in der Stimmung.“
Er hob um Verzeihung bittend die Hände.
„Entschuldigen sie. Ein Scherz. Nur ein Scherz.“
Damaris seufzte. „Schon gut.“
Sie schwiegen beide. Damaris war etwas verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Etwas, das bei ihr nur höchst selten vorkam.
Oliver fühlte sich keineswegs verlegen. Er war fast sicher, dass Damaris ahnte, dass etwas im Hause von Bergen nicht stimmte. Sie war ja regelrecht geflohen. Clemens achtete schlecht auf seine Braut.
„Gestern Abend wurden wir sehr plötzlich unterbrochen“, sagte Damaris schließlich etwas zaghaft. „Ich hatte den Eindruck, dass sie mir etwas erzählen wollten.“
Oliver seufzte. Der stets fröhliche Gesichtsausdruck verschwand. Er hatte sich also nicht getäuscht. Sie wusste genau, dass es ein Geheimnis gab. Ein unseliges Geheimnis, an dem sie ohne eigenes Verschulden mehr beteiligt war, als sie ahnte. Aber stand es ihm zu, dieses Geheimnis zu lüften?
„Nein, es gibt nichts, was ich ihnen zu erzählen hätte“, antwortete er zu ihrem Entsetzen.
Sie fühlte, dass er log. Natürlich gab es etwas.
„Aber das stimmt doch nicht“, drängte sie leise.
Er schüttelte ernst den Kopf. „Vielleicht bin ich zu der Ansicht gekommen, dass es falsch wäre. Dass es mir nicht zusteht, darüber zu reden.“
„Und was war gestern Nacht?“
„Gestern war es auch falsch. Es war mir nur noch nicht klar geworden.  Heute hatte ich Zeit, darüber nachzudenken und weiß, dass ich mich besser nicht in Dinge einmische, die mich nichts angehen.“
Damaris war verzweifelt. Es war so klar, dass er das Geheimnis kannte. Ein Geheimnis, das mit dem Unheil zu tun hatte, das sie seit ihrer Ankunft auf Bergen spürte.
Aber er saß hier vor ihr und schwieg. Sie war so nah daran und doch so weit davon entfernt, das Geheimnis zu erfahren.
„Warum glauben sie das? Wenn es etwas gibt, das nur im Entferntesten mit mir zu tun hat, dann müssen sie es mir sagen. Sie müssen!“
Sie drehte sich zur Seite und sah ihm direkt ins Gesicht, doch er wich ihrem Blick aus. Sie hätte schreien können. Oh mein Gott, erst Sarah, dann er! Alle wussten etwas und niemand redete mit ihr! Alle ließen sie im Ungewissen! Sarah beschränkte sich auf Andeutungen und Oliver… Moment, Sarah! Damaris hielt den Atem an. Plötzlich hatte sie eine Eingebung. „Hat es mit Imogen zu tun?“, fragte sie so ruhig sie konnte. Ihr Herz klopfte schon wieder zum Zerspringen. Ihre ganze Haut kribbelte vor Nervosität.
Er wirbelte herum und fasste sie so fest am Arm, dass er schmerzte.
„Auh!“, entfuhr es ihr wie von selbst. Doch er kümmerte sich nicht darum. Er schien es nicht einmal gehört zu haben.
Egal – sie biss die Zähne zusammen. Sie triumphierte innerlich. Sie hatte richtig geraten. Imogen war der Schlüssel.
„Was wissen sie über Imogen?“, presste er hervor.
„Nicht viel. Sie war Sarahs Schwester, die kurz nach ihrer Heirat starb. Ich habe Sarah an sie erinnert. Ach, es war etwas mysteriös. Ich hatte das Gefühl, Sarah würde gern über ihre Schwester reden, aber es war ihr verboten. Ich verstehe das nicht. Wieso verbietet man einem Mädchen, Erinnerungen an ihre tote Schwester auszutauschen?“
Damaris kam sich wie eine Verräterin vor. Sie hatte Sarah versprochen, das Gespräch für sich zu behalten. Aber ihr Verlangen, dieses Geheimnis zu lüften, war so stark. Stärker als ihre Loyalität Sarah gegenüber. Stärker als ihre Verpflichtung, ein Versprechen zu halten.
Er ließ ihren Arm los. Seine Arme sanken wie leblos herab.
„Ach Damaris“, stöhnte er.
„Ja?“
„Imogen – sie – sie…“
Ihr Herz schlug bis zum Hals.“
„Wissen sie, was damals geschah?“
Er nickte fast unmerklich.
Damaris erkannte, dass es ihm schwer fiel. Aber sie musste es hören. Jetzt konnte er nicht mehr zurück. Sie hielt den Atem an, ihre Hände waren zu Fäusten verkrampft. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihre Handballen. Nie zuvor war sie so aufgeregt gewesen. Sie hatte regelrecht Panik vor dem, was er jetzt sagen würde.
Dann sprach er leise und mit einer merkwürdig rauen Stimme:
„Sie war mit Clemens verheiratet. Und sie starb auf Bergen. Sie fiel jene Treppe hinunter, die sie gestern Abend zum Ball herab geschritten sind.“
© Rotraud Falke-Held